Der mündige Patient
Jeder Mensch mit Diabetes steht vor der Aufgabe, sich mit dem nun lebenslangen Begleiter seines Leben zu arrangieren. Das geht nur, wenn man im Zusammenhang mit dem Diabetes seine bisherigen Lebensgewohnheiten überdenkt, einige verändert und neue Verhaltensweisen ausprobiert. Dabei stehen ganz wichtige persönliche Themen auf dem Prüfstand: Wie bewusst lebe ich, wie wichtig ist mir meine Gesundheit? Wie sorgsam gehe ich mit mir um, wie viel bin ich mir wert? Wie viel Lebensstruktur und welche Lebensziele habe ich? Wie ernähre ich mich, wie wichtig ist mir eine gesunde Lebensführung? Wie sorgsam gehe ich mit meinem Körper um, wie wichtig ist mir körperliche Bewegung? In wie weit bin ich bereit, mich äußeren Zwängen zu unterwerfen, Einschränkungen in den persönlichen Freiheitsgraden im Leben zu akzeptieren? Wieviel bin ich bereit zu investieren, um ungünstige Lebensweisen zu verändern? All diese Themen haben etwas mit grundsätzlichen Einstellungen, Gefühlen, Gedanken und nicht zuletzt Verhaltensweisen zu tun - eben dem persönlichen Lebensstil, welcher auch die Individualität jedes Menschen prägt.
Eines ist auch sicher: Gesundheit oder auch ein gesunder Umgang mit dem Diabetes läßt sich nicht verordnen! Dies sagt einem nicht nur der normale Menschenverstand, dies belegen auch eine Vielzahl von Studien. In wieweit eine Veränderung grundlegender Lebensgewohnheiten, -stile gelingt, hängt im starken Maße davon ab, ob diese im Einklang mit den persönlichen Überzeugungen, Fähigkeiten und Zielen stehen und hierfür eine Motivation vorhanden ist. In einer modernen Diabetesschulung sollte daher in Kenntnis dieser Befunde nicht nur Wissen über den Diabetes vermittelt, sondern konkrete Hilfen für den Umgang mit dem Diabetes und die Veränderung von Lebensgewohnheiten angeboten werden, damit Sie selbst zu einer Entscheidung gelangen können, welche Bereiche des Lebens Sie verändern möchten.
"Empowerment" oder "Selbstmanagement", zwei Begriffe die eine fast identische Bedeutung haben, stehen daher für eine moderne Schulungsphilosophie, die nicht belehrend versucht, richtige oder falsche Wege der Lebensführung mit dem Diabetes zu vermitteln. Statt dessen soll den Menschen mit Diabetes in der Schulung und Behandlung ein Rahmen angeboten werden, mit Hilfe der Kenntnisse und Angebote der Schulungsexperten selbst zu einer Entscheidung zu kommen, welche Lebensgewohnheiten man verändern will und welchen persönlichen Lebensstil mit dem Diabetes man anstrebt. Denn: Die einzig wahre und dauerhaft positive Veränderung kann nur durch und in einem selbst stattfinden. Übersetzt man daher die Begriffe "Empowerment", "Selbstmanagement" anders, dann klingen Sie schon freundlicher: "Hilfe zur Selbsthilfe" um den eigenen Weg, den eigenen Lebensstil im Umgang mit dem Diabetes zu finden.
Früher war alles besser - diesen Spruch kennen Sie sicher auch. Für die Behandlung des Diabetes stimmt dies sicher nicht! Wer erinnert sich nicht als langjähriger Diabetiker an die vielen falschen Ratschläge von wohlmeinenden Experten oder die Einschränkungen durch ein Behandlungsregime, welches wie ein unsichtbares Korsett ein spontanes Leben sehr erschwerte? Der Diabetes war der Taktgeber für die Ernährung, Bewegung und den Rhythmus des Tagesablaufes. Klare Regeln und Behandlungsschablonen (unflexible Regeln zur Insulinkorrektur; starrer Spritz-Ess-Abstand; feste Kostpläne) wurden dem Patienten als Vorgaben gegeben. Kein Wunder daher, dass sich viele Menschen mit Diabetes diesen starren Behandlungsrichtlinien entzogen, dagegen revoltierten oder darunter litten.
Die Rollen in der Diabetestherapie waren klar verteilt: Auf der einen Seite der allwissende Doktor, der die "Einstellung" vornahm und die Richtlinien der Therapie bestimmte und auf der andern Seite der solchermaßen "eingestellte" Patient, welcher möglichst gut versuchen sollte, diese Empfehlungen in seinem Alltag umzusetzen. Je besser er dies schaffte, desto eher wurde er als "compliant" bezeichnet. Wie im Alphabet stand A(rzt) für aktiv, allwissend und P(atient) für passiv, nur partiell in die Therapie integriert.
Wie eine Befreiung empfanden daher viele Menschen ab den 70er-/80er Jahren die Möglichkeiten der Selbstkontrolle und intensivierten Formen der Insulintherapie, die es erstmals ermöglichten, die Diabetesbehandlung an den Bedürfnissen und Realitäten des Alltags auszurichten und selbst zu steuern. Das Rollenverständnis wandelte sich ebenfalls: Während es zu Beginn in der Ärzteschaft noch erregte Diskussionen darüber gab, ob denn die Selbstkontrolle oder die eigenständige Insulindosierung in die Hand des Patienten gegeben werden sollte, wurde dies sehr bald zur Selbstverständlichkeit.
Auch die Schulung der Patienten, die sich oft mehr Wissen über Ihren Diabetes als viele Hausärzte aneigneten, wurde bald landauf, landab als wesentliche Therapie(!)maßnahme des Diabetes verkündet. Der Patient wurde zunehmend als Partner gesehen. es wurde anerkannt, dass er der eigentlich wesentliche "Aktient" der Therapie ist. "Sie sind selbst für Ihren Diabetes verantwortlich" lautete daher immer öfters die Botschaft an den Diabetiker.
"Jede Form des Lebens hat ihren Preis" - so formulierte es der frühere Bundespräsident Roman Herzog einmal in einer Rede. Dies gilt auch für die Diabetestherapie. Je höher die Anforderungen bezüglich des eigenverantwortlichen Umgangs mit dem Diabetes an den Einzelnen werden, desto mehr muss man sich allerdings auch darüber Gedanken machen, wie man Menschen eine fundierte Hilfestellung zukommen lässt, die mit der Bürde der Verantwortung nicht zurecht kommen, sie grundsätzlich/zeitweise/momentan nicht tragen können.
Aber wie sagt schon das Sprichwort: "Jed Ding hat zwei Seiten",
Der Preis der Freiheit heißt Selbstverantwortung: Selbst Ziele im Umgang mit dem Diabetes zu formulieren, selbst aus verschiedenen Ansichten, Lehrmeinungen die richtige, passende auszuwählen, selbst die Verantwortung für Fehler, schlechte Blutzuckerwerte zu tragen, sich selbst tagtäglich zu motivieren, bestmöglichst sich um den eigenen Diabetes zu bemühen ... Die Liste der Anforderungen ist lang und verdeutlicht auch, warum ein selbstverantwortlicher Umgang neben vielen Chancen auch Risiken in sich birgt:
- Wer selbstverantwortlich mit dem Diabetes umgehen will, muss auch gelernt haben, selbstverantwortlich mit sich selbst umzugehen. Dies ist ein hohes Ziel und eine schwere Aufgabe. Nicht wenige Menschen mit Diabetes haben daher Schwierigkeiten mit dem Diabetes, weil sie es nie oder nicht ausreichend gelernt haben, Selbstverantwortung im Leben zu übernehmen.
- Regelmäßige Selbstkontrolle bedeutet, daß man sich tagtäglich mehrmals mit dem eigenen Stoffwechsel beschäftigen muss. Damit rückte der Diabetes zwangsläufig immer wieder im Tagesverlauf in den Blickpunkt der Aufmerksamkeit. "Wer einmal von dem Baum der Erkenntnis genascht hat, kommt so leicht nicht mehr davon ab" kommentierte ein Patient vor kurzem bitter, mit dem ich wegen seiner ständigen Sorgen um seinen Blutzucker Therapiegespräche führte. Seine Tagesstimmung hing zu einem hohen Ausmaß von seinen gemessenen Blutzuckerwerten ab.
- Pluralismus der Meinungen kann auch Unübersichtlichkeit bedeuten, Orientierungslosigkeit hervorrufen. Ähnlich, wie die Informationsflut aus den vielen neuen TV-Kanälen oder die schier grenzenlosen Angebote des Internets auch die Gefahr in sich bergen, das Gefühl zu bekommen, von einer Informationslawine überrollt zu werden, kann auch die Vielzahl unterschiedlicher Lehrmeinungen (z.B. zu Reizthemen, wie die Bewertung der Gefährlichkeit von Hypoglykämien), gänzlich verschiedener Informationen über den Diabetes in den zahlreichen Medien dazu führen, dass nicht eine fundierte Meinungsbildung, sondern im Gegenteil eine starke Verunsicherung auftritt.
- Viel mehr Menschen als früher sind mit der Notwendigkeit konfrontiert, mit mannigfachen Brüchen, Richtungsänderungen und Neuanfängen im Leben fertig zu werden. Schon ein Blick auf die durchschnittliche Anzahl von Beziehungen im Leben, die Scheidungsraten, die Zahl von Berufs- und Ortswechseln oder die veränderten Anforderungen im Berufsalltag machen deutlich, dass der Mensch von heute sich viel häufiger an veränderte Lebensumwelten anpassen muss als früher. "Bei jeder größeren Turbulenz in meinem Leben kann ich fast immer zuschauen, wie mit einer gewissen Zeitverzögerung mein Diabetes auch Purzelbäume schlägt" kommentierte ein Mann kürzlich in einer Gesprächsrunde die dort mehrmals berichtete Tatsache, dass in Zeiten von Umbrüchen, Belastungen und der Neuorientierung es häufig sehr viel schwerer fällt, sich optimal um den eigenen Diabetes zu kümmern.
- "Sie wissen doch selbst am besten Bescheid über den Diabetes - Sie sind doch geschult - Sie müssten doch selber wissen, was Sie spritzen müssen"; "Sie haben doch in der Diätberatung gelernt, wie Sie richtig essen sollen, warum nehmen Sie denn nicht ab?" So oder ähnlich berichten häufiger Patienten in der "Kennenlernrunde" unserer Klinik über die Reaktion ihres Hausarztes auf Stoffwechselentgleisungen oder Schwierigkeiten bei der Umsetzung von Therapiemaßnahmen. Selbstverantwortung im schlechten Sinne kann daher auch zur Folge haben, dass man alleine die Verantwortung für den Diabetes übertragen bekommt und sich andere Ihrer (Fremd-)Verantwortung entziehen.
- "Sie können die Folgeerkrankungen des Diabetes vermeiden!" lautet die Botschaft in der Schulung über Folgekomplikationen. Menschen mit Diabetes, welche bereits Folgeerkrankungen haben, interpretieren diese, eigentlich motivierend gedachte Aussage, jedoch oft anders: "Ich hätte die Folgeerkrankungen vermeiden können, ich bin also schuld daran." Bei Fehlern, Niederlagen sind wir oft versucht, die Schuld bei anderen zu suchen, da das Eingestehen von eigenen Fehlern sich oft schwieriger darstellt, als diese bei Andern zu finden. Die Verantwortung für Fehler zu tragen ist viel schwieriger als für Erfolge.
Wie steht's um meinen Umgang mit dem Diabetes?
Der Diabetes stellt ohne Zweifel eine Herausforderung, ein Problem dar. Wahrscheinlich kommt es vor allem darauf an, wie gut und flexibel man es schafft, mit den vielen Anforderungen des Diabetes im Alltag zurecht zukommen. Wie sagte doch der bekannte Psychologe und Erfolgsautor Paul Watzlawick ("Die Kunst des Unglücklichseins"): Bei vielen Problemen stellt nicht das Problem das eigentliche Problem dar, sondern die falsche Form der Problemlösung ist das eigentliche Problem.